Über bedeutsame Entwicklungen zum Europäischen Haftbefehl im Jahr 2024 wurde bereits berichtet (siehe hier). In einem weiteren Urteil (Fall “Anacco”) des Europäischen Gerichtshof (EuGH) wurde auf Abwesenheitsurteile im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl eingegangen. Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit Europäischen Haftbefehlen (EAW), die auf in Abwesenheit erlassenen Urteilen beruhen. Die zentrale Frage war, inwieweit nationale Gesetze, die eine Auslieferung auch in solchen Fällen zwingend vorsehen, mit EU-Recht und Grundrechten vereinbar sind. Diese Entscheidung hat weitreichende Implikationen für die Praxis der Strafverfolgung in Europa.
Der Fall Anacco
Im Fall Anacco, C-504/24 vom 20.09.2024 (Link zum Beschluss), stellte Belgien einen Europäischen Haftbefehl gegen RT aus, um eine zweijährige Haftstrafe zu vollstrecken. Diese Strafe wurde in einem Verfahren verhängt, bei dem RT weder persönlich anwesend war noch durch einen Anwalt vertreten wurde. Der EAW enthielt jedoch die Zusicherung, dass RT nach ihrer Auslieferung das Urteil anfechten und ein neues Verfahren mit vollem rechtlichen Gehör einleiten könnte.
RT wurde in Italien festgenommen. Das italienische Gesetz, das den EAW regelt, erlaubt keine Ablehnung einer Auslieferung allein aufgrund eines in Abwesenheit erlassenen Urteils, wenn der betroffenen Person ein faires Nachverfahren garantiert wird. Die italienischen Gerichte zweifelten jedoch an der Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit der italienischen Verfassung und EU-Recht und legten den Fall dem EuGH vor.
Der EuGH wurde gebeten, zu klären, ob nationales Recht – wie das italienische – zulässig ist, das die Ablehnung einer Auslieferung in Fällen verhindert, in denen das Urteil in Abwesenheit ergangen ist und die betroffene Person nach ihrer Auslieferung Rechtsmittel einlegen kann.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied, dass die italienische Gesetzgebung mit EU-Recht vereinbar ist. Nationale Gesetze dürfen eine Ablehnung der Auslieferung nicht auf zusätzliche Bedingungen stützen, die über die in der Rahmenentscheidung 2002/584/JI zum Europäischen Haftbefehl vorgesehenen hinausgehen. Die wesentlichen Argumente des Gerichts lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Prinzipien des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung
- Gegenseitiges Vertrauen: Mitgliedstaaten müssen grundsätzlich davon ausgehen, dass andere Mitgliedstaaten die EU-Grundrechte achten, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor.
- Gegenseitige Anerkennung: Die Verweigerung der Auslieferung ist nur in den im EAW-FD ausdrücklich vorgesehenen Fällen zulässig und muss eng ausgelegt werden.
- Artikel 4a der Rahmenentscheidung zum EAW
- Artikel 4a(1) erlaubt die Ausführung eines EAW auch dann, wenn die betroffene Person im Ausgangsverfahren nicht anwesend war, sofern:
- die Person über die Möglichkeit eines neuen Verfahrens mit vollem rechtlichen Gehör informiert wurde, oder
- die betroffene Person die Möglichkeit hat, das ursprüngliche Urteil anzufechten und eine erneute Überprüfung der Beweise zu erwirken.
- Die Tatsache, dass RT keinen Anwalt im ursprünglichen Verfahren hatte, ist irrelevant, solange die oben genannten Garantien erfüllt sind.
- Artikel 4a(1) erlaubt die Ausführung eines EAW auch dann, wenn die betroffene Person im Ausgangsverfahren nicht anwesend war, sofern:
- Einhaltung von EU-Standards
- Die EU-Standards für Grundrechte – insbesondere Artikel 47 und 48(2) der EU-Grundrechtecharta – bilden die maßgebliche Grundlage für die Beurteilung. Nationale Standards dürfen nicht höher sein, da dies das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung untergraben würde.
- Die Ausführung eines EAW ist auch dann zulässig, wenn das ursprüngliche Verfahren nicht mit den Richtlinien 2012/13/EU (Recht auf Information) und 2013/48/EU (Recht auf Zugang zu einem Anwalt) vollständig übereinstimmt, solange die Verteidigungsrechte im Nachverfahren gewahrt bleiben.
Was bedeutet das Urteil für die weitere Praxis?
Das Urteil enthält meiner Meinung nach folgende Implikationen:
- Der EuGH hat klargestellt, dass Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Bedingungen für die Ablehnung eines EAW schaffen dürfen. Die im EAW-FD vorgesehenen Rechte auf ein Nachverfahren oder eine Berufung reichen aus, um die Grundrechte zu wahren.
- Die Entscheidung stärkt die Effizienz des EAW und ist letztlich eine Stärkung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, indem sie verhindert, dass nationale Gesetze die Auslieferung durch zusätzliche Anforderungen behindern.
- Das Urteil betont, dass die EU-Grundrechtecharta der Maßstab ist und nationale Standards nicht zur Ablehnung eines EAW herangezogen werden dürfen. Dies sorgt für eine einheitliche Anwendung innerhalb der EU.
Die Entscheidung im Fall Anacco unterstreicht, dass der Europäische Haftbefehl weiterhin ein effektives Instrument der grenzüberschreitenden Strafverfolgung bleibt, ohne dabei den Grundrechtsschutz zu vernachlässigen. Gleichzeitig zeigt das Urteil, dass die Harmonisierung der rechtlichen Standards für eine funktionierende Rechtskooperation von entscheidender Bedeutung ist.
Während das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens gestärkt wird, bleibt die EU herausgefordert, sicherzustellen, dass die Grundrechte in allen Mitgliedstaaten einheitlich gewahrt werden. Fälle wie dieser verdeutlichen die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Dialogs zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen.