Nachdem die Keycases des EGMR in Strafsachen zum materiellen Strafrecht bereits im ersten Teil (Link) vorgestellt wurden, geht es im zweiten Teil um die Keycases zum Strafprozessrecht.
A.L. and E.J. v. France
Beschluss vom 24.09.2024 (Section V): https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-14395
In dieser Rechtssache wurden wichtige Fragen zu Gerichtsbarkeit, Opferstatus und dem Ausschöpfen nationaler Rechtsmittel behandelt. Der Fall beleuchtet zentrale Aspekte der grenzüberschreitenden Datenerhebung, der Rechtshilfe zwischen Staaten und der rechtlichen Möglichkeiten von Angeklagten im Kontext verschlüsselter Kommunikationstechnologien wie EncroChat.
EncroChat war ein verschlüsseltes Kommunikationsnetzwerk, das ausschließlich über spezialisierte Geräte und Abonnements zugänglich war. Es war von 2016 bis 2020 in Betrieb, bis französische Behörden die Plattform erfolgreich hackten. Dieser Hack, der von französischen Servern aus durchgeführt wurde, ermöglichte es Ermittlern, Benutzerdaten aus der Ferne zu extrahieren, einschließlich Daten von Personen im Vereinigten Königreich, die im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung (EEA) erhoben wurden. Der Fall entstand, nachdem zwei britische Staatsbürger, A.L. und E.J., Frankreich vorwarfen, ihre Rechte verletzt zu haben, indem EncroChat-Daten an britische Behörden weitergegeben wurden. Sie argumentierten, dass Frankreich seine Zuständigkeit überschritten und Verfahrensgarantien verletzt habe.
Die Frage der Zuständigkeit drehte sich darum, wo und wie die Datenerhebung erfolgte. Der Gerichtshof stellte fest:
- Der Zugriff auf die Daten wurde vollständig von französischem Hoheitsgebiet aus durchgeführt, unter Einsatz französischer Ermittler und Server.
- Die Übermittlung der Daten an britische Behörden erfolgte im Rahmen einer EEA, die von französischen Staatsanwälten autorisiert wurde.
Obwohl die Auswirkungen der Maßnahmen über Frankreich hinausgingen, entschied der EGMR, dass die Maßnahmen Frankreich zuzurechnen seien. Dies steht im Einklang mit der EU-Rechtsprechung, die es dem ersuchenden Staat untersagt, die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsverfahren des ausführenden Staates in Frage zu stellen.
Eine zentrale Frage war, ob die Antragsteller unter Art. 34 EMRK als „Opfer“ anerkannt werden konnten. Der Gerichtshof bejahte dies ohne die Notwendigkeit der Selbstbelastung, mit der Begründung:
- EncroChat hatte eine begrenzte Nutzerbasis, und die Antragsteller wurden auf Grundlage der durch den Hack erlangten Daten festgenommen und strafrechtlich verfolgt.
- Die Forderung nach einem Nachweis, dass sie EncroChat-Nutzer waren, würde ihr Recht auf Selbstbelastungsfreiheit untergraben.
Diese Entscheidung zeigt das Engagement des EGMR, den Zugang zu Individualbeschwerden auch in technisch komplexen Strafverfahren zu gewährleisten.
Ein entscheidender Punkt war, ob die Antragsteller in Frankreich wirksame Rechtsmittel ausgeschöpft hatten, bevor sie ihre Beschwerde beim EGMR einreichten. Gemäß Artikel 35 der EMRK müssen Antragsteller alle verfügbaren nationalen Rechtsmittel nutzen. Der Gerichtshof stellte fest:
- Rechtsmittel nach französischem Recht vorhanden: Artikel 694-41 der französischen Strafprozessordnung erlaubte es Einzelpersonen, Beweise anzufechten, die im Rahmen einer EEA erlangt wurden. Dies entsprach den Anforderungen der Richtlinie 2014/41/EU zur gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen.
- Möglichkeit des Beweisausschlusses: Die Antragsteller hätten die Daten von EncroChat in französischen Gerichten als Verstoß gegen Artikel 8 EMRK (Recht auf Privatsphäre) anfechten können. Das französische Recht erlaubte ausdrücklich Anfechtungen ohne Selbstbelastung.
- Versäumnis zu handeln: Die Antragsteller hatten diese Rechtsmittel nicht genutzt und auch keine außergewöhnlichen Umstände geltend gemacht, die ihr Untätigbleiben rechtfertigten.
Der Gerichtshof entschied, dass die Antragsteller nationale Rechtsmittel nicht ausgeschöpft hatten, und wies ihren Fall als unzulässig ab.
F.M. and Others v. Russia
Urteil vom 10.12.2024 (Section III): https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-14414
Die Entscheidung beleuchtet, wie strukturelles Versagen und Diskriminierung dazu beitrugen, dass Migrantinnen über Jahre hinweg ausgebeutet wurden, ohne angemessenen Schutz durch den Staat. Die fünf Frauen, drei aus Kasachstan und zwei aus Usbekistan, wurden zwischen 2002 und 2016 nach Russland gebracht und in Geschäften in Moskau unter entsetzlichen Bedingungen ausgebeutet. Ihre Pässe wurden ihnen abgenommen, sie mussten unbezahlte Schwerstarbeit leisten, hatten keine Ruhezeiten und lebten unter Überwachung in den Geschäften. Zusätzlich erlitten sie körperliche Gewalt, Vergewaltigungen, erzwungene Schwangerschaften und Abtreibungen sowie die Wegnahme ihrer Kinder. Die Behörden wurden ab 2010 von internationalen Organisationen und kasachischen Behörden über die Situation informiert. Trotzdem unternahmen die russischen Behörden keine wirksamen Maßnahmen, um die Frauen zu schützen oder die Täter zu verfolgen.
Der EGMR beanstandete folgende Punkte:
- Laut Artikel 4 EMRK hatten die russischen Behörden die Pflicht, geeignete gesetzliche und administrative Maßnahmen gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit zu ergreifen. Trotz bestehender Gesetze waren diese in der Praxis nicht effektiv. Die Definitionen von Menschenhandel und Zwangsarbeit im russischen Strafrecht waren unzureichend und ermöglichten es, den Opfern fälschlicherweise eine “freiwillige” Teilnahme an ihrer Ausbeutung zu unterstellen.
- Die Behörden führten keine umfassenden Ermittlungen durch, obwohl es klare Hinweise auf Menschenhandel und Zwangsarbeit gab. Stattdessen wurden die Anzeigen der Frauen ignoriert, und Aussagen der mutmaßlichen Täter sowie von deren Kontrollierten als Beweise akzeptiert. Die mangelnde Kooperation mit den Heimatländern der Opfer und die fehlende Unterstützung durch speziell geschulte Ermittler verschärften die Situation.
Hintergrund Diskriminierung: Artikel 14 EMRK stellt Diskriminierung unter Strafe. Der EGMR stellte fest, dass Frauen und Migrantinnen besonders anfällig für Menschenhandel und Ausbeutung sind. Frauen aus Zentralasien mit irregulärem Migrationsstatus waren in Russland einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, da sie isoliert und rechtlich ungeschützt waren. Die Untätigkeit der Behörden und die systematische Missachtung der Rechte von Opfern schufen ein Klima der Straflosigkeit. Diese Haltung spiegelte eine diskriminierende Einstellung gegenüber weiblichen Migrantinnen wider, die besonders verletzlich gegenüber Gewalt und Ausbeutung waren.
Der EGMR stellte fest, dass Russland seine positiven Verpflichtungen nicht erfüllt hat, indem es keine effektiven Gesetze und Maßnahmen gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit ergriffen hat. Die Versäumnisse der Behörden schufen ein Umfeld, das Menschenhandel förderte, und verweigerten den Antragstellerinnen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.
Nealon and Hallam v The United Kingdom
Urteil vom 11.06.2024 [Grand Chamber]: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-14334
Die Entscheidung betrifft die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen nach der Aufhebung von Strafurteilen als „unsicher“ und bezieht sich auf ein strenges neues Kriterium im britischen Recht, das 2014 eingeführt wurde.
Die Beschwerdeführer hatten ihre Strafurteile aufgrund neuer Beweise erfolgreich angefochten; die Urteile wurden vom Berufungsgericht als „unsicher“ aufgehoben. Es wurde jedoch kein erneuter Prozess angestrengt. Beide beantragten daraufhin Entschädigung für einen Justizirrtum gemäß Abschnitt 133 des britischen Criminal Justice Act 1998. Seit 2014 verlangt das Gesetz, dass eine Entschädigung nur dann gezahlt wird, wenn ein „neuer oder neu entdeckter Fakt“ zweifelsfrei zeigt, dass die betreffende Person die Straftat nicht begangen hat. Da die Beschwerdeführer dieses strenge Kriterium nicht erfüllten, wurde ihr Antrag abgelehnt. Sie argumentierten, dass diese Ablehnung gegen die Unschuldsvermutung verstoße.
Der EGMR führte dazu wie folgt aus:
- Der Gerichtshof bestätigte, dass die Unschuldsvermutung auch nach Abschluss eines Strafverfahrens gilt, insbesondere wenn es um Entschädigungsansprüche geht, die direkt mit dem aufgehobenen Urteil verknüpft sind. Die Ablehnung des Entschädigungsantrags müsse jedoch untersucht werden, um festzustellen, ob dabei eine implizite Schuldzuweisung erfolgte.
- Artikel 6 Absatz 2 schützt die rechtliche Unschuldsvermutung, nicht die faktische Unschuld. Das britische Gesetz verlangte lediglich eine Bewertung neuer Fakten, um festzustellen, ob die Beschwerdeführer zweifelsfrei unschuldig waren – eine restriktive, aber rechtlich zulässige Politik. Es wurde keine implizite Schuldzuweisung festgestellt, da die Ablehnung der Entschädigung nicht bedeutete, dass die Beschwerdeführer schuldig seien.
Der EGMR betonte, dass Entschädigungsverfahren, die mit einem aufgehobenen Urteil verbunden sind, nicht automatisch eine Schuldzuschreibung bedeuten. Entscheidend ist, ob die Entscheidungsträger durch ihre Begründung die strafrechtliche Schuld der Beschwerdeführer implizieren. Staaten haben das Recht, die Definition von „Justizirrtum“ festzulegen. Der Gerichtshof stellte klar, dass die Unschuldsvermutung nicht automatisch ein Recht auf Entschädigung begründet. Der Gerichtshof anerkannte, dass das britische Entschädigungssystem restriktiv gestaltet ist, sah darin jedoch keine Verletzung der Unschuldsvermutung, solange keine Schuldzuweisung erfolgte.
Die Ablehnung der Entschädigung beruhte auf einem klar definierten rechtlichen Standard und implizierte keine Schuld der Beschwerdeführer. Der EGMR unterstrich, dass es den Staaten obliegt, wie sie moralische Verpflichtungen gegenüber zu Unrecht Verurteilten in konkrete Entschädigungsregelungen umsetzen.
Executief van de Moslims van België and Others v. Belgium
Urteil vom 13.02.2024 [Section II]: https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-14290
In diesem Fall entschied der Gerichtshof, dass die Verordnungen in den flämischen und wallonischen Regionen Belgiens, die das Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung verbieten und für rituelle Schlachtungen eine reversible Betäubung vorsehen, keine Verletzung der Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) und keine Diskriminierung (Artikel 14 EMRK) darstellen.
Die flämische Region verabschiedete 2017 und die wallonische Region 2018 Verordnungen, die das Schlachten ohne vorherige Betäubung verbieten. Für rituelle Schlachtungen wurde eine reversible, nicht-tödliche Betäubungsmethode eingeführt. Organisationen, die Muslime und Juden in Belgien vertreten, sowie gläubige Einzelpersonen, argumentierten, dass diese Verordnungen ihre Religionsfreiheit verletzen. Sie legten beim belgischen Verfassungsgericht Berufung ein, das die Verordnungen jedoch aufrechterhielt, gestützt auf ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), das die reversible Betäubung als vereinbar mit der Religionsfreiheit einstufte.
Der EGMR führte zu Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) aus:
- die rituelle Schlachtung fällt in den Schutzbereich der Religionsfreiheit, da sie ein Ausdruck religiöser Überzeugungen ist.
- Die Verordnungen stellten einen Eingriff dar, da sie das Schlachten ohne vorherige Betäubung untersagten. Dieser Eingriff war jedoch gerechtfertigt, da:
- [Rechtliche Grundlage] Die Verordnungen waren klar und vorhersehbar.
- [Legitimes Ziel] Tierschutz ist ein legitimer Zweck im Rahmen des Schutzes der öffentlichen Moral. Dies stellte der EGMR zum ersten Mal fest. Der Gerichtshof betonte die wachsende Bedeutung des Tierschutzes als ethischer Wert in demokratischen Gesellschaften.
- [Verhältnismäßigkeit] Die belgischen Behörden hatten eine reversible Betäubung als Alternative eingeführt und dabei einen angemessenen Ausgleich zwischen Religionsfreiheit und Tierschutz angestrebt. Die Maßnahme ging nicht über das hinaus, was notwendig war, um das Ziel zu erreichen.
Daher bestand in casu keine Verletzung von Artikel 9 EMRK. Die Behörden überschritten nicht ihren Ermessensspielraum, da die Verordnungen verhältnismäßig und mit einem legitimen Ziel verbunden waren.
Der EGMR hatte sich auch zu Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) zu äußern, da die Beschwerdeführer argumentierten, dass die Verordnungen diskriminierend seien, insbesondere im Vergleich zu Jägern und Fischern oder zur allgemeinen Bevölkerung. Der EGMR wies diese Argumente zurück:
- Die Situation von Jägern und Fischern, die wild lebende Tiere töten, unterscheidet sich wesentlich von der von gläubigen Juden und Muslimen, die rituell geschlachtetes Fleisch konsumieren möchten.
- Die Verordnungen schufen spezifische Ausnahmen für rituelle Schlachtungen (reversible Betäubung), wodurch religiöse Vorschriften berücksichtigt wurden. Die Situation der gläubigen Juden und Muslime wurde daher nicht gleich behandelt, sondern spezifisch adressiert.
- Der Gerichtshof betonte, dass es ihm nicht zustehe, interne Unterschiede in religiösen Vorschriften zu bewerten, da diese nicht relevant für die rechtliche Beurteilung seien.
Fazit: Keine Diskriminierung. Die Verordnungen waren neutral und berücksichtigten religiöse Besonderheiten angemessen.