Das Jahr 2024 war geprägt von wegweisenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Bereich des Strafrechts. Die Urteile beleuchteten zentrale Prinzipien wie die Verteidigungsrechte, die Unabhängigkeit der Justiz und die Grenzen staatlicher Eingriffe in individuelle Freiheiten. Besonders hervorgehoben wurden Fälle wie:
- Nealon und Hallam v. Vereinigtes Königreich: Klärung der Anforderungen an die Entschädigung bei Fehlurteilen und die Bedeutung der Unschuldsvermutung im Nachgang zu aufgehobenen Verurteilungen.
- Aydın Sefa Akay v. Türkei: Die Bedeutung der diplomatischen Immunität und des Grundsatzes der richterlichen Unabhängigkeit im Kontext internationaler Gerichte.
- Ukraine v. Russland (Krim): Systematische Verstöße gegen grundlegende Strafrechtsgarantien, einschließlich unrechtmäßiger Verhaftungen, Folter und Diskriminierung, verdeutlichten die Reichweite internationaler Verpflichtungen in Konfliktsituationen.
Die Entscheidungen zeigen die dynamische Entwicklung der EMRK-Rechtsprechung und die wachsende Bedeutung des EGMR bei der Sicherung von Verfahrensgarantien in komplexen rechtlichen und politischen Kontexten. Ein detaillierter Rückblick auf diese Urteile verspricht spannende Einblicke in die Schnittstelle von Strafrecht und Menschenrechten.
Technischer Disclaimer: Der folgende Text wurde aus den Legal Summaries mit ChatGPT zusammengefasst. Hier geht es zu Teil 2.
The J. Paul Getty Trust and Others v. Italy
Urteil vom 2.5.2024 [Section I] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14317
Der Fall betrifft die Konfiszierung einer antiken griechischen Bronze-Statue, die “Victorious Youth” (auch bekannt als “Athlet von Fano”), durch die italienischen Behörden. Die Statue wurde 1964 vor der italienischen Küste gefunden, illegal ins Ausland exportiert und später 1977 vom J. Paul Getty Trust, einer gemeinnützigen Organisation in den USA, erworben. Italien versuchte über Jahrzehnte, die Statue zurückzuerlangen, und erließ schließlich 2007 eine gerichtliche Konfiszierungsanordnung. Der Trust argumentierte, dass diese Anordnung gegen sein Recht auf friedlichen Genuss seines Eigentums gemäß Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 der EMRK verstoße. Der EGMR prüfte den Fall und entschied, dass keine Verletzung dieser Norm vorliegt, da die Konfiszierung im öffentlichen Interesse und im Einklang mit den rechtlichen Anforderungen erfolgte.
Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK schützt das Recht jeder natürlichen und juristischen Person auf den friedlichen Genuss ihres Eigentums. Eingriffe in dieses Recht sind nur dann zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, einem legitimen öffentlichen Interesse dienen und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Weite Ermessensspielräume bei Kulturgütern: Der Gerichtshof betonte die Bedeutung des Schutzes des kulturellen Erbes und räumte den Staaten einen weiten Ermessensspielraum ein, insbesondere bei der Rückgewinnung illegal exportierter Kulturgüter.
- Rechtsmäßigkeit der Maßnahme: Die Konfiszierung beruhte auf einer klaren gesetzlichen Grundlage im italienischen Recht und war daher mit dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit vereinbar. Das Fehlen einer Verjährungsfrist bei der Rückforderung von Kulturgütern wurde ebenfalls nicht als Verstoß gegen die EMRK gewertet.
- Verhältnis von öffentlichem und individuellem Interesse: Der EGMR stellte fest, dass die Rückgewinnung der Statue ein legitimes Ziel verfolgte, nämlich den Schutz des kulturellen Erbes, und dass der Eingriff verhältnismäßig war. Der Trust hatte beim Erwerb der Statue nicht die notwendige Sorgfalt walten lassen, insbesondere hinsichtlich ihrer Herkunft.
- Stärkung internationaler Kooperationen: Der Fall unterstreicht die Relevanz internationaler Instrumente wie der UNESCO-Konvention (1970) und der UNIDROIT-Konvention (1995) für den Schutz von Kulturgütern. Diese rechtlichen Entwicklungen erleichtern die Rückführung von Kulturgütern und stärken den internationalen Konsens über die Notwendigkeit des Schutzes kultureller Objekte.
Bogdan v. Ukraine
Urteil vom 8.2.2024 [Section V] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14285
Der Fall betrifft die Gültigkeit eines Verzichts auf rechtlichen Beistand durch einen Angeklagten, der unter Entzugserscheinungen litt und sich in unaufgezeichneter Polizeigewahrsam befand. Der Beschwerdeführer, ein wegen Diebstahls Verdächtigter, wurde am 14. April 2014 in Polizeigewahrsam genommen, ohne offiziell als festgenommen registriert zu sein. Zwei Tage später unterzeichnete er ein Formular, das auf den Verzicht eines Anwalts hinwies, und gab während einer Tatrekonstruktion belastende Aussagen ab. Später wurde festgestellt, dass er an psychischen und Verhaltensstörungen infolge von Drogenmissbrauch litt. Der EGMR entschied, dass die Umstände seiner Inhaftierung und der Verzicht auf rechtlichen Beistand das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 EMRK verletzt hatten.
Artikel 6 EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren, einschließlich der Unterstützung durch einen Anwalt (Artikel 6 § 3 c). Ein Verzicht auf dieses Recht muss freiwillig, wissentlich und eindeutig erfolgen. Einschränkungen dürfen nur in Ausnahmefällen und bei zwingenden Gründen vorgenommen werden, dürfen jedoch nicht die Gesamtfairness des Verfahrens beeinträchtigen.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Unaufgezeichnete Inhaftierung und Verfahrensgarantien: Der Gerichtshof stellte fest, dass der Beschwerdeführer faktisch festgenommen wurde, bevor er offiziell als verdächtig eingestuft wurde. Seine Kontakte mit der Polizei während dieser Zeit hätten als formelle Vernehmungen behandelt werden müssen, wodurch die Verfahrensgarantien nach Artikel 6 EMRK hätten greifen müssen.
- Ungültigkeit des Verzichts auf rechtlichen Beistand: Der Verzicht war aufgrund der gesundheitlichen und psychischen Verfassung des Beschwerdeführers ungültig. Seine Drogenabhängigkeit und die dadurch bedingten Entzugserscheinungen machten ihn anfällig und nicht in der Lage, eine informierte Entscheidung zu treffen. Der Verzicht wurde daher nicht als freiwillig und wissentlich anerkannt.
- Verletzung des Rechts auf Verteidigung: Das Fehlen eines Anwalts in den frühen Stadien des Ermittlungsverfahrens und die Verwendung der belastenden Aussagen aus dieser Zeit beeinträchtigten die Fairness des gesamten Verfahrens. Die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers wurden irreparabel geschädigt, da seine Aussagen maßgeblich zur Beschaffung weiterer Beweise beitrugen.
- Relevanz der Verfahrensfehler: Der EGMR betonte, dass die nationalen Gerichte die Frage der Gültigkeit des Verzichts nicht angemessen untersucht hatten. Die oberflächliche Prüfung des mentalen Zustands des Beschwerdeführers und die Missachtung von Verfahrensschutzrechten führten zu einem unfairen Verfahren.
- Stärkung der Verteidigungsrechte: Die Entscheidung betont die Bedeutung eines effektiven rechtlichen Beistands während aller Phasen eines Strafverfahrens. Besondere Sorgfalt muss bei schutzbedürftigen Personen angewandt werden, um die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten.
Daniel Karsai v. Hungary
Urteil vom 13.6.2024 [Section I] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14340
Der Fall betrifft einen unheilbar an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten Anwalt, der in Ungarn lebt und Zugang zu medizinisch assistiertem Suizid (PAD) wünscht. Der Beschwerdeführer argumentiert, dass die absolute strafrechtliche Verbotsregelung in Ungarn, die sowohl PAD im Inland als auch eine Unterstützung bei PAD im Ausland untersagt, gegen sein Recht auf Achtung seines Privatlebens (Artikel 8 EMRK) und das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 EMRK) verstößt. Der EGMR stellte fest, dass das Verbot weder gegen Artikel 8 noch Artikel 14 verstößt, da Ungarn eine weite Einschätzungsprärogative in moralisch und ethisch sensiblen Fragen wie PAD besitzt. Die Verfügbarkeit von Alternativen wie Palliativpflege wurde ebenfalls als relevant bewertet.
Artikel 8 EMRK: Schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, einschließlich der Autonomie über Entscheidungen, die das persönliche Leben betreffen, wie die Art und Weise des Lebensendes.
Artikel 14 EMRK: Verbietet Diskriminierung bei der Wahrnehmung der in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Weite Ermessensspielräume der Staaten: Der Gerichtshof erkannte an, dass Fragen zu PAD komplexe ethische und moralische Aspekte betreffen, die stark von den lokalen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Werten abhängen. Staaten haben daher eine breite Einschätzungsprärogative, ob und unter welchen Bedingungen PAD erlaubt wird.
- Negative und positive Verpflichtungen: Das Verbot von PAD betrifft sowohl negative (Unterlassungspflichten) als auch positive Verpflichtungen (Bereitstellung von Regelungen und Maßnahmen). Der EGMR betonte, dass Artikel 8 keine Pflicht für Staaten begründet, PAD zu legalisieren, insbesondere wenn Alternativen wie Palliativpflege verfügbar sind.
- Abwägung zwischen individueller Autonomie und Schutzvorkehrungen: Der EGMR stellte fest, dass das strafrechtliche Verbot von PAD legitime Ziele verfolgt, wie den Schutz vulnerabler Personen vor Missbrauch, die Aufrechterhaltung der ethischen Integrität der Medizin und die moralische Achtung des Lebenswertes. Ungarns Regelungen wurden als verhältnismäßig angesehen.
- Diskriminierungsverbot (Artikel 14): Der Unterschied zwischen Patienten, die durch Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen ihr Leben verkürzen können, und Patienten ohne diese Möglichkeit wurde nicht als Diskriminierung gewertet. Das Recht, medizinische Behandlungen abzulehnen, ist grundlegend mit der freien und informierten Einwilligung verbunden, während PAD eine aktive Beteiligung von Dritten erfordert und daher unterschiedlich zu behandeln ist.
- Palliativpflege als Alternative: Der Gerichtshof unterstrich die Bedeutung hochwertiger Palliativpflege, einschließlich der Möglichkeit von palliativer Sedierung, als Alternative zu PAD. Der Beschwerdeführer hatte nicht nachgewiesen, dass diese Optionen in Ungarn unzureichend oder nicht zugänglich wären.
- Weiterentwicklung des Rechts: Der EGMR merkte an, dass die Notwendigkeit rechtlicher Maßnahmen zur Regelung von PAD angesichts gesellschaftlicher und ethischer Entwicklungen in Europa überprüft werden sollte, betonte jedoch, dass dies primär eine Angelegenheit nationaler Gesetzgeber bleibt.
Aydın Sefa Akay v. Türkiye
Urteil vom 23.4.2024 [Section II] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14315
Der Fall betrifft die Verhaftung, Durchsuchung und Untersuchungshaft eines Richters am International Residual Mechanism for Criminal Tribunals (IRMCT), der in der Türkei trotz diplomatischer Immunität festgenommen wurde. Der Richter, ein türkischer Staatsbürger, arbeitete 2016 remote aus Istanbul für den Mechanismus. Nach dem Putschversuch 2016 wurde er aufgrund des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (FETÖ/PDY) verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Trotz seiner diplomatischen Immunität, die vom Mechanismus und den Vereinten Nationen geltend gemacht wurde, entschieden türkische Gerichte, dass seine Immunität auf seine dienstlichen Tätigkeiten beschränkt sei.
Der EGMR stellte fest, dass sowohl die Verhaftung und Untersuchungshaft als auch die Durchsuchung seiner Person und seines Hauses gegen Artikel 5 und Artikel 8 der EMRK verstießen.
Artikel 5 EMRK: Schützt das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Eine Freiheitsentziehung muss gesetzlich vorgesehen sein und den Grundsatz der Rechtssicherheit wahren.
Artikel 8 EMRK: Schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, einschließlich der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Privatsphäre.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Diplomatische Immunität und Rechtssicherheit: Der EGMR betonte, dass die diplomatische Immunität internationaler Richter entscheidend für deren Unabhängigkeit ist. Die Interpretation der türkischen Gerichte, die die Immunität des Richters verneinte, war unvorhersehbar und untergrub den Grundsatz der Rechtssicherheit.
- Unrechtmäßige Untersuchungshaft (Artikel 5): Die türkischen Gerichte verzögerten die Prüfung der Immunitätsfrage um mehr als acht Monate, wodurch die Immunität faktisch wirkungslos wurde. Dies stellte eine Verletzung von Artikel 5 Abs 1 dar, da die Haft nicht mit den Anforderungen der Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit vereinbar war.
- Durchsuchung und Beschlagnahme (Artikel 8): Die Durchsuchung der Wohnung des Richters, die auch als Arbeitsstätte diente, und die Beschlagnahme persönlicher Gegenstände verletzten Artikel 8. Die Immunität des Richters, die im Interesse des UN-Mechanismus bestand, wurde nicht berücksichtigt. Die Behörden hätten eine offizielle Aufhebung der Immunität durch die UN einholen müssen, was nicht geschah.
- Kein Ausnahmefall durch den Notstand: Die Türkei konnte die Verstöße nicht durch den Notstand nach dem Putschversuch rechtfertigen. Der EGMR stellte fest, dass die Maßnahmen nicht durch die Anforderungen des Notstands geboten waren und mit den internationalen Verpflichtungen der Türkei unvereinbar waren.
- Stärkung des Schutzes internationaler Richter: Der EGMR hob hervor, dass die Unabhängigkeit internationaler Richter durch klare und strikte Einhaltung von Immunitätsregeln geschützt werden muss, um die Integrität internationaler Gerichtsbarkeit zu gewährleisten.
- Wiedergutmachung und Verpflichtung zur Einhaltung: Der EGMR sprach dem Richter 21.100 EUR für immaterielle Schäden zu und forderte die Türkei auf, Maßnahmen zu ergreifen, um zukünftige Verstöße zu vermeiden, insbesondere im Umgang mit diplomatischer Immunität.
Nealon and Hallam v. the United Kingdom [GC]
Urteil vom 11.6.2024 [GC] https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=002-14334
Der Fall betrifft die Ablehnung von Entschädigungsanträgen zweier Personen in Großbritannien, deren Strafurteile aufgrund neuer Beweise als „unsicher“ aufgehoben wurden. Nach einer Gesetzesänderung im Jahr 2014 konnte eine Entschädigung nur gewährt werden, wenn neue Tatsachen zweifelsfrei belegen, dass die Person die Straftat nicht begangen hat. Die Beschwerdeführer argumentierten, dass die Ablehnung ihrer Anträge gegen die Unschuldsvermutung (Artikel 6 Abs 2 EMRK) verstieß. Der EGMR entschied, dass die Ablehnung der Entschädigung keine Verletzung darstellt, da sie keine kriminelle Schuld impliziert, sondern lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung nicht erfüllt wurden.
Artikel 6 Abs 2 EMRK: Die Unschuldsvermutung schützt Individuen davor, nach der Aufhebung eines Strafurteils oder der Einstellung eines Verfahrens von Behörden oder Gerichten als schuldig behandelt zu werden. Sie sichert, dass Personen, deren Schuld nicht nachgewiesen wurde, in Übereinstimmung mit ihrer rechtlichen Unschuld behandelt werden.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Unschuldsvermutung und Entschädigungsansprüche: Der EGMR stellte klar, dass die Unschuldsvermutung in ihrem zweiten Aspekt nicht verletzt wird, wenn eine Entschädigung abgelehnt wird, solange keine Implikation krimineller Schuld vorliegt. Die Entscheidung beruht darauf, dass die Anforderungen des nationalen Rechts nicht erfüllt wurden und keine Behauptung geäußert wurde, die auf eine tatsächliche Schuld hindeutet.
- Rechtslage in Großbritannien: Das 2014 eingeführte Kriterium, wonach eine Entschädigung nur bei zweifelsfreier Feststellung der Unschuld gewährt wird, wurde als legitime politische Entscheidung bewertet. Der EGMR betonte, dass das Recht auf Entschädigung nicht durch Artikel 6 Abs 2 garantiert wird und dass Staaten eigene Definitionen von „Justizirrtum“ festlegen dürfen, sofern diese die Unschuldsvermutung respektieren.
- Differenzierung zwischen rechtlicher und tatsächlicher Unschuld: Der EGMR unterschied zwischen der rechtlichen Unschuld („innocence in the eyes of the law“) und der tatsächlichen Unschuld. Die rechtliche Unschuld bleibt gewahrt, solange die Ablehnung der Entschädigung nicht impliziert, dass die Beschwerdeführer die Straftat begangen haben.
- Kein allgemeines Recht auf Entschädigung: Artikel 6 Abs 2 EMRK begründet kein allgemeines Recht auf Entschädigung für aufgehobene Verurteilungen. Die Entschädigung hängt von nationalen Regelungen ab und es ist Sache der Staaten, diese im Einklang mit der EMRK auszugestalten.
- Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis: Der EGMR stellte fest, dass viele Mitgliedstaaten keine Entschädigung für alle aufgehobenen Verurteilungen vorsehen. Daher wurde die britische Regelung als nicht unverhältnismäßig oder ungewöhnlich angesehen.
- Bewahrung der Unabhängigkeit nationaler Regelungen: Der EGMR betonte, dass nationale Gerichte weiterhin die Beweislage in Entschädigungsfällen bewerten dürfen, solange dies keine Schuldzuweisung impliziert. Dies erlaubt es Staaten, ihre Verfahren für Entschädigungen bei Justizirrtümern eigenständig zu regeln.
Fabbri and Others v. San Marino [GC]
Urteil vom 24.9.2024 [GC] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14380
Der Fall betrifft die Beschwerde von drei Beschwerdeführern in San Marino, die als Opfer von Straftaten an Strafverfahren beteiligt waren, bei denen die Vorwürfe aufgrund der Untätigkeit des Ermittlungsrichters verjährten. Sie argumentierten, dass ihnen dadurch der Zugang zu einem Gericht für die Entscheidung über ihre zivilrechtlichen Ansprüche verweigert wurde. Der EGMR entschied, dass Artikel 6 Abs 1 EMRK nur im Fall des dritten Beschwerdeführers anwendbar war, da dieser formal seinen Anspruch im Rahmen des Strafverfahrens geltend gemacht hatte. Dennoch sah der Gerichtshof keine Verletzung, da alternative zivilrechtliche Wege verfügbar waren und die Beschwerdeführer nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gehandelt hatten.
Artikel 6 Abs 1 EMRK: Gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren, einschließlich des Zugangs zu einem Gericht, wenn eine ernsthafte Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche besteht. Dieses Recht umfasst sowohl die Effektivität des Zugangs als auch die Entscheidung der Ansprüche innerhalb einer angemessenen Frist.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 6 Abs 1 EMRK: Der EGMR stellte klar, dass Artikel 6 Abs 1 EMRK in Fällen von zivilrechtlichen Ansprüchen im Rahmen von Strafverfahren nur anwendbar ist, wenn:
- Ein materielles zivilrechtliches Recht nach nationalem Recht besteht.
- Der nationale Gesetzgeber ein Verfahren zur Geltendmachung dieser Rechte im Strafprozess vorgesehen hat.
- Die Beschwerdeführer ihren Anspruch klar und formgerecht geltend gemacht haben.
- Keine Verpflichtung zur zivilrechtlichen Klärung im Strafprozess: Staaten sind nicht verpflichtet, zivilrechtliche Ansprüche im Rahmen von Strafverfahren zu ermöglichen. Dies liegt im Ermessen der Staaten, wobei alternative Wege zur Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen vorhanden sein müssen.
- Abwägung der Interessen: Der Gerichtshof betonte die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen dem Zugang zu Gerichten und anderen Interessen wie der Rechtssicherheit und den Rechten der Angeklagten im Strafverfahren.
- Verantwortung der Beschwerdeführer: Der EGMR hob hervor, dass die Beschwerdeführer ihre Ansprüche mit der gebotenen Sorgfalt verfolgen müssen. Im Fall des dritten Beschwerdeführers wurde festgestellt, dass er erst kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist handelte und nicht alle verfügbaren Alternativen nutzte.
- Systemische Dysfunktion und Verantwortung des Staates: Obwohl der EGMR keine Verletzung von Artikel 6 feststellte, äußerte er Besorgnis über die systemischen Dysfunktionen in San Marino, die zur Verjährung zahlreicher Verfahren führten. Der Gerichtshof betonte die Verpflichtung des Staates, die Funktionalität der Justiz zu gewährleisten.
- Keine eigenständige Verpflichtung zur Strafverfolgung durch Artikel 6: Der EGMR stellte klar, dass Artikel 6 keine eigenständige Verpflichtung des Staates zur Strafverfolgung begründet. Andere Konventionsartikel, wie Artikel 2 oder 3, können jedoch eine solche Verpflichtung in spezifischen Kontexten enthalten.
Pindo Mulla v. Spain [GC]
Urteil vom 17.9.2024 [GC] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14378
Der Fall betrifft eine Zeugin Jehovas, die einer Bluttransfusion während einer Notoperation trotz ihres ausdrücklichen schriftlichen und mündlichen Widerspruchs unterzogen wurde. Die Beschwerdeführerin hatte zuvor umfassende medizinische Vorausverfügungen getroffen, die jede Form von Bluttransfusionen ablehnten, selbst bei Lebensgefahr, und stattdessen alternative Behandlungen bevorzugten. In einer Notsituation entschieden Ärzte und ein Richter, die Bluttransfusion ohne weitere Prüfung ihrer schriftlichen Verfügungen durchzuführen. Der EGMR stellte fest, dass dies eine Verletzung von Artikel 8 EMRK darstellt, da das Recht der Beschwerdeführerin auf persönliche Autonomie und selbstbestimmte Gesundheitsentscheidungen nicht ausreichend respektiert wurde.
Artikel 8 EMRK: Schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, einschließlich der körperlichen und geistigen Unversehrtheit sowie des Rechts auf persönliche Autonomie und die Freiheit, über medizinische Behandlungen zu entscheiden.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Patientenautonomie und Selbstbestimmung: Der EGMR betonte, dass die persönliche Autonomie ein zentrales Element des Rechts auf Achtung des Privatlebens ist. Kompetente, erwachsene Patienten haben das Recht, medizinische Behandlungen abzulehnen, auch wenn dies lebensbedrohliche Folgen haben kann. Diese Entscheidung muss respektiert werden, solange sie klar, frei und bewusst getroffen wurde.
- Fehlende Beachtung von Vorausverfügungen: Die Missachtung der schriftlichen Vorausverfügung der Beschwerdeführerin, die unter spanischem Recht bindend war, wurde als bedeutender Verfahrensmangel gewertet. Die Ärzte und der Richter hätten angemessene Anstrengungen unternehmen müssen, um die Verbindlichkeit und Relevanz der Verfügung in der Notsituation zu prüfen.
- Abwägung zwischen Lebensschutz und Autonomie: Der Gerichtshof erkannte die Bedeutung des Lebensschutzes an, betonte jedoch, dass dieser nicht automatisch Vorrang vor der Autonomie eines Patienten hat. In Situationen, in denen Zweifel an der Gültigkeit oder Anwendbarkeit der Ablehnung bestehen, müssen angemessene Bemühungen unternommen werden, um diese Zweifel auszuräumen.
- Systematische Mängel im Entscheidungsprozess: Der EGMR kritisierte, dass der Entscheidungsprozess nicht ausreichend sicherstellte, dass die Wünsche der Beschwerdeführerin berücksichtigt wurden. Die Informationen, die dem Richter vorlagen, waren ungenau und unvollständig, was zu einer Entscheidung führte, die die Autonomie der Patientin verletzte.
- Internationale Standards und die Oviedo-Konvention: Der Gerichtshof berücksichtigte internationale Standards, einschließlich der Oviedo-Konvention, die die Bedeutung von Patientenautonomie und die Anerkennung von medizinischen Vorausverfügungen betonen. Er stellte jedoch fest, dass die Umsetzung dieser Prinzipien innerhalb des nationalen Systems unzureichend war.
- Bedeutung für nationale Regelungen: Der Fall unterstreicht die Notwendigkeit, dass nationale Gesundheitssysteme klare und effektive Mechanismen zur Anerkennung und Durchsetzung von medizinischen Vorausverfügungen schaffen. Ein effektiver Schutz der Autonomie erfordert, dass diese Systeme auch in Notsituationen verlässlich funktionieren.
Ukraine v. Russia (re Crimea) [GC]
Urteil vom 25.6.2024 [GC] https://hudoc.echr.coe.int/?i=002-14347
Der Fall behandelt die Klage der Ukraine gegen Russland vor dem EGMR bezüglich Menschenrechtsverletzungen, die sich aus den administrativen Praktiken russischer Behörden in der Krim seit dem 27. Februar 2014 ergeben. Die Ukraine warf Russland systematische Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vor, darunter Zwangsverschleppungen, Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Diskriminierung der Krimtataren. Der EGMR entschied einstimmig, dass es zu mehreren Verstößen gegen die EMRK gekommen war.
Artikel 33 EMRK: Erlaubt Staaten, Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch andere Staaten vor den EGMR zu bringen (Inter-State-Anträge).
Artikel 46-2 EMRK: Verpflichtet Staaten, Maßnahmen zur Umsetzung eines EGMR-Urteils zu ergreifen.
Weitere Artikel der EMRK und Protokolle, darunter Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Folterverbot), Art. 8 (Privatsphäre), Art. 10 (Meinungsfreiheit), Art. 11 (Versammlungsfreiheit), sowie Artikel der Protokolle 1 und 4, wurden untersucht.
Zusammenfassend hat der EGMR folgendes ausgeführt:
- Verantwortlichkeit Russlands:
- Russland übte seit dem 27. Februar 2014 effektive Kontrolle über die Krim aus und war für alle in diesem Gebiet begangenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich.
- Die Einführung russischen Rechts und die damit verbundenen Maßnahmen verstoßen gegen die EMRK, insbesondere unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts (IHL).
- Systematische Menschenrechtsverletzungen:
- Enteignungen: Systematische und unkompensierte Enteignungen von Privatbesitz und Unternehmen.
- Diskriminierung der Krimtataren: Unterdrückung durch Hausdurchsuchungen, Schließung kultureller Einrichtungen und Einschränkungen religiöser Rechte.
- Unterdrückung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Verhaftungen und Strafverfolgung von Oppositionellen und unabhängigen Journalisten.
- Unrechtmäßige Inhaftierung: Politische Gefangene wurden unter unmenschlichen Haftbedingungen in russische Gefängnisse verlegt.
- Eingriffe in Bildung und Sprache: Drastischer Rückgang des Unterrichts in ukrainischer Sprache.
- Fehlende Rechtsstaatlichkeit:
- Die Einführung russischen Rechts auf der Krim war nicht mit der EMRK vereinbar und verletzte die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
- Ulterior Motive (Artikel 18):
- Russland verfolgte mit den Menschenrechtsverletzungen den überwiegenden Zweck, jede politische Opposition und Kritik zu unterdrücken.
- Artikel 46 – Individualmaßnahmen:
- Russland muss die sichere Rückführung von Gefangenen sicherstellen, die von der Krim in russische Strafanstalten verlegt wurden.
Wichtige Implikationen
- Anerkennung von Verletzungen: Das Urteil erkennt umfassend Menschenrechtsverletzungen und die Verletzung internationaler Normen durch Russland auf der Krim an.
- Relevanz des humanitären Völkerrechts (IHL): Der EGMR bestätigte, dass IHL bei der Auslegung der EMRK in besetzten Gebieten berücksichtigt wird.
- Verpflichtung zu Maßnahmen: Russland wurde aufgefordert, Maßnahmen zur Wiedergutmachung und zum Schutz der Rechte der Betroffenen zu ergreifen.